Philipp Fritzsche: Neugier 2001
Die mehrfach umgenutzte und umgebaute Liegenschaft an der Hannoverschen Straße in Berlin-Mitte, in der heute eine Abteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie untergebracht ist, blickt auf eine äußerst interessante Geschichte zurück. Hans Scharoun hatte hier nach dem Krieg eine zerstörte Kaserne als Sitz der Deutschen Bauakademie und der Redaktion der DDR-Zeitschrift „Deutsche Architektur“ auf- und umgebaut. Internationale Berühmtheit erlangte das sechsgeschossige Gebäude seit 1974 als Ständige Vertretung der BRD; für deren Zwecke wurde ein großer zweigeschossiger Gartenpavillon errichtet. Mit dem Einzug des des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Jahr 1999 kam als Neubau ein Querflügel hinzu, von dem sich das nunmehr dreiteilige Ensemble erschließt.
Anlässlich der Herrichtung und Erweiterung der Gebäude für das Bildungs- und Forschungsministerium wurde für fünf Kunst-am-Bau-Standorte ein Studierendenwettbewerb durchgeführt. Besondere Aufmerksamkeit erregt die Kunst an der ansonsten relativ gleichförmigen Fassade des sechsgeschossigen Altbaus. Exakt in der Mittelachse des Gebäudes hat Philipp Fritzsche, damals Student der Burg Giebichenstein Hochschule für Kunst und Design Halle, über vier Etagen zwischen dem ersten und dem vierten Obergeschoss Stahlschienen angebracht, an denen sich zwei Kugeln ständig und unabhängig voneinander auf und ab bewegen. Die Installation ist ein spielerisches Element der Architektur. Als solches ist sie, wie früher Glockenspiele an Fassaden etwa von Rathäusern, natürlich ein Blickfang für alle Passanten. Sie weist mehrere Bedeutungsschichten auf. Die technoide Anmutung und die Kinetik können als Reverenz gegenüber dem damaligen Ministerium mit seiner Zuständigkeit für die Forschung gelesen werden.
Neben dem eigentümlichen Schönheits- und Fortschrittsaspekt, der sich in der Idealform der Kugel, dem Metall und seinem Glanz spiegelt, scheint noch eine andere, inhaltliche Dimension auf, welche die Geschichte des Gebäudes reflektiert. In den Jahren vor dem Fall der Mauer suchten in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik zwischenzeitlich weit über hundert ausreisewillige Bürger der DDR Zuflucht. Das hatte eine drastische Erhöhung der Überwachungsmaßnahmen des Gebäudes durch patrouillierende Volkspolizisten und Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR zur Folge. Die Arbeit von Philipp Fritzsche thematisiert dementsprechend das Sehen nicht nur hinsichtlich der Kunst, sondern auch in Hinblick auf Sicherheits- und Überwachungstechniken. So erlangt die 360-Grad-Weitwinkelwirkung dieser als Augen dienenden Kugeln eine ebenso symptomatische Bedeutung wie deren vertikale Bewegung, die das systematische und umfängliche Erfassen des Ortes und der Situation ermöglicht. Der Titel der Arbeit „Neugier“ deutet in seinen positiven und negativen Konnotationen ebenfalls in eine Richtung, die das Sehen zwischen Betrachten und Beobachten oder anders: zwischen Kunst, Forschung und Spionage verortet. M.S.
Weiterführende Literatur Online:
Martin Seidel / Claudia Büttner / Johannes Stahl (Autoren), Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.): Kurzdokumentation von 300 Kunst-am-Bau-Werken des Bundes von 1950 bis 2013, BBSR-Online-Publikation Nr. 03/2018, Februar 2018.
Weiterführende Literatur:
Kunst am Bau. Die Projekte des Bundes in Berlin, hrsg. v. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen (BMVBW), Berlin 2002.
kinetische Arbeit
Installation aus 2 Spiegelkörpern an Stahlschienen über 4 Etagen
43.971 €
nicht-offener Wettbewerb / Einladungswettbewerb
Altbau
Fassade Atlbau
öffentlich zugänglich/einsehbar
Künstler : Philipp Fritzsche
Philipp Fritzsche (* 1970 in Eberswalde-Finow; lebt in Leipzig). Nach einer Ausbildung als Werkzeugmacher studierte er Metallplastik bei Irmtraut Ohme und war Meisterschüler bei Ute Pleuger an der Hochschule für Kunst und Design, Halle an der Saale. Fritzsche erhielt unter anderem den Kunstförderpreis der Stadtwerke Halle an der Saale (1999) und ein Graduiertenstipendium des Landes Sachsen Anhalt (1999). Seit 1998 hat Fritzsche mehrere Arbeiten im öffentlichen Raum von Leipzig, Dresden, Hannover, Taucha, Wurzen realisiert. 2014 entstand als Kunst am Bau vor der Technischen Hochschule Mittweida – Medien und Soziale Arbeit das Werk „16 Leuchtkörper pro Sekunde“.
Altbau Berlin
Architektur: Hans Scharoun
Bauzeit: 1949
Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz
Hannoversche Str. 28-30
10115 Berlin
Der 1913 errichtete Kasernenbau wurde 1949 von Hans Scharoun umgebaut, der im Dachgeschoss sein Atelier einrichtete. Bis 1973 hatte auch die Deutsche Bauakademie dort ihren Sitz. 1973-74 wurde der Bau von der Bundesbaudirektion umgebaut und durch einen Pavillon im Garteerweitert. Bis 1990 diente das Ensemble sals Sitz der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR. Nach Herrichtung und Erweiterung durch Jourdan & Müller Architekten war er ab 2000 Zweiter Dienstsitz des BMBF; seit 2015 wird er vom BMWK genutzt.