Barbara Frieß: Die Gelassenheit der Augen im Hinblick auf das Rauschen & Das Spiel der Erweiterung in den Möglichkeiten des Raumes 2000
Die mehrfach umgenutzte und umgebaute Liegenschaft an der Hannoverschen Straße in Berlin-Mitte, in der heute eine Abteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie untergebracht ist, blickt auf eine äußerst interessante Geschichte zurück. Hans Scharoun hatte hier nach dem Krieg eine zerstörte Kaserne als Sitz der Deutschen Bauakademie und der Redaktion der DDR-Zeitschrift „Deutsche Architektur“ auf- und umgebaut. Internationale Berühmtheit erlangte das sechsgeschossige Gebäude seit 1974 als Ständige Vertretung der BRD; für deren Zwecke wurde ein großer zweigeschossiger Gartenpavillon errichtet. Mit dem Einzug des des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Jahr 1999 kam als Neubau ein Querflügel hinzu, von dem sich das nunmehr dreiteilige Ensemble erschließt.
Anlässlich der Baumaßnahmen fürs BMBF (1998-2000) wurde ein zweistufiger kooperativer Kunst-am-BauWettbewerb für Studenten von 22 eingeladenen deutschen Kunsthochschulen ausgelobt. Als eine der fünf KünstlerInnen, die nach diesem Wettbewerb einen Auftrag erhielten, schuf Barbara Frieß eine raumbezogene Arbeit fürs Treppenhaus des sechsgeschossigen Neubaus. Es handelt sich um große, stark reduzierte Zeichnungen und Folienschnitte eines mit Hose und Mantel oder Hemd bekleideten Menschen, der in unterschiedlichen Posen mit einem quaderförmigen Gegenstand beziehungsweise mit einem Sehrohr hantiert.
Für die Darstellungen nutzte die Künstlerin, damals Studentin der Hochschule für bildende Künste Hamburg, die 28,5 Meter hohe und 3,5 Meter breite Glasfassade auf der Hofseite sowie die sechs, jeweils 4,6 x 3,5 Meter großen Wände gegenüber auf der innenliegenden Seite. Die Figuren auf der Hofseite sind aus einer beschichteten UV-Klebefolie ausgeschnitten, die sechs anderen Figuren mit Plaka auf die Wände gezeichnet. Die von Textfragmenten – „…für sich“, „…auf sich“, „…an sich“, „…zwischen sich“, „…bei sich“, „…über sich“, „…aus sich“, „…vor sich“, „…in sich“, „…hinter sich“ – begleiteten Szenen addieren sich von Etage zu Etage und im Verhältnis von Innen und Außen zu einem Bewegungsablauf und Bedeutungszusammenhang, der das Sehen, Wahrnehmen und Erkennen thematisiert. Auf den Bildern der Fensterseite mit dem anspielungsreichen Titel „Die Gelassenheit der Augen im Hinblick auf das Rauschen“ wird das Sehen mithilfe eines Fernrohres intensiviert. Die Wandarbeiten haben den Titel „Das Spiel der Erweiterung in der Möglichkeit des Raumes“ und zeigen das Betrachten eines Objekts, das an ein Buch erinnert. Auf den Fensterbildern ist das Blickfeld gegenüber dem natürlichen Sehen des menschlichen Auges verengt. Das Betrachten auf der Wandseite dagegen ist ein komplexes, auch körperliches und räumliches Sich-ins-Verhältnis-setzen. Dass die Zeichnung, um dies zu veranschaulichen, sich dabei auf die Kontur beschränkt und nur ein Minimum an Perspektive und Räumlichkeit zulässt, gehört zum Reiz dieser von Barbara Frieß „Poetographien“ genannten Bilder, deren Thematik gut zu den Ressorts Bildung und Forschung des damaligen Ministeriums passt. M.S.
Weiterführende Literatur Online:
Martin Seidel / Claudia Büttner / Johannes Stahl (Autoren), Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.): Kurzdokumentation von 300 Kunst-am-Bau-Werken des Bundes von 1950 bis 2013, BBSR-Online-Publikation Nr. 03/2018, Februar 2018.
Weiterführende Literatur:
Kunst am Bau. Die Projekte des Bundes in Berlin, hrsg. v. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen (BMVBW), Berlin 2002, S. 248 ff.
Raumarbeit
Glasarbeiten und Wandbilder
11.606 €
nicht-offener Wettbewerb / Einladungswettbewerb
Neubau
5 Etagen des Treppenhauses im Neubau
öffentlich zugänglich/einsehbar
Künstlerin : Barbara Frieß
Barbara Frieß (*1972 im Allgäu; lebt in Berlin) ist Künstlerin. Sie studierte an der freien Kunstschule Nürtingen, ABR - Stuttgart (1991-1995) sowie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (1995-2001). Frieß hat – seit 2011 teilweise in der Aktionsgruppe „kollektiv tatort“ gemeinsam mit Katrin Schmidbauer – zahlreiche Kunst-im-öffentlichen-Raum-Projekte vor allem in Berlin, auch in Nürnberg, Hamburg und Kiel realisiert. Frieß erhielt Projektstipendien des Kunstfonds Bonn (2006) und der Kulturverwaltung des Berliner Senats (2007) sowie den Vater Kunstpreis, Kiel (2011).
Neubau Berlin
Architektur: Jourdan & Müller
Bauzeit: 1998-2000
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
Hannoversche Straße 28-30
10115 Berlin
Mit der Wende wurde der Sitz der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR obsolet, so dass es 1998-2000 als Zweiter Dienstsitz für das BMBF durch Jourdan & Müller Architekten aus Frankfurt hergerichtet und erweitert wurde. Seit 2015 wird der Bau vom BMWE genutzt.